Prosa
In der Kurzprosa werden verschiedene Themen schlaglichtartig, zum Teil satirisch, beleuchtet:
- Schulzeit (der 60iger Jahre): „Der Dauerschwenkler“, „Th oder das schleichende Gift“
- die eheliche Kommunikation aus der Perspektive von Frau und Mann.
- Th oder das schleichende Gift
- Dauerschwenkler
- Altersalltag Er
- Altersalltag Sie
Als 10-jährige mit klopfendem Herzen und feuchten Händen, aber mit anfänglicher Begeisterung und grenzenlosem Optimismus Englisch als erste Fremdsprache lernen: das ist lange her und wirft Schatten.
Ich erinnere mich an ein kleines Vokabelheft mit fremden Lautschriftzeichen in eckigen Klammern, denen die neuen englischen Wörter zugeordnet werden mussten, die gleich ausgesprochen werden – lange Wortlisten. Nicht nur Vokale und Diphthonge müssen untergebracht werden, sondern auch Konsonanten, stimmhafte und stimmlose, und wehe man verwechselt Lautschrift mit Schreibschrift, dann nehmen die Unterstreichungen in den Diktaten auf wundersame Weise zu, aber nicht um Wichtiges zu markieren – ganz im Gegenteil. Je mehr Rot, desto mehr ist falsch, desto mehr steigt das Chaos und sinkt die Selbstachtung. Und auch die Corrections vermehren sich, als Berichtigung der Berichtigung der Berichtigung, ein Berg, der kaum zu bezwingen ist.
Und vor allem die Königsdisziplin th: Mal muss man die Zungenspitze gegen die oberen Schneidezähne rollen, mal sie kess hervorlugen lassen, ohne Sprühnebel zu produzieren, immer wieder…Übung macht schließlich den Meister. Wiederholung soll festigen, einschleifen.
Und wer dann endlich perfekt aussprechen kann, was als englische Delikatesse gilt: three, thrush, with, both, cloth und thread, aber ohne thrill in the throat, einfach through geht, auch wenn die Stimme der Lehrerin thundering ist, der darf, mit wohlwollendem Lächeln begleitet, diskret und geräuschlos seinen Ranzen packen und frohgemut -das kann für alle anderen auch schon mal hämisch wirken – das angelsächsische Lautabenteuer hinter sich lassen.
Aber die weniger Glücklichen – die Schlechten – müssen weiter gefördert werden, müssen nachsitzen, oder eher nachstehen – zur Strafe.
So kann das Fräulein die Übersicht behalten, wer noch immer hartnäckig- und möglicherweise bösartig- am de hängt, statt triumphierend zum th aufzusteigen.
Längst genießen die Guten ihre wohlverdiente Freizeit, während die übrig Gebliebenen, mehr hängend als stehend, vornüber gebeugt sprühen, schlucken, tropfen und sich zunehmend verzweifelter um das Queen’s English bemühen als Krönung aller Mühsal.
Das Fräulein, das uns so für die englische Sprache zu begeistern versuchte – in meiner Erinnerung mit mausgrauem Nackenknoten und randloser Brille – hatte den Spitznamen „Schleichendes Gift“, vielleicht weil sie sich von hinten heimlich anschlich und durch leichte Schläge auf den Hinterkopf des Delinquenten das Denk- und Sprechvermögen zu fördern versuchte, was aber leider meist misslang.
Ein Schwenkler ist jemand, der ein Seilende festhält und das kräftige Hanfseil mit Verdickung in der Mitte im hohen Bogen schwingen lässt. Zwei Schwenkler sind nötig zum Seilchenhüpfen.
Und das geht so: Ein Kind springt beherzt in die Schwungwelle, wenn das Seil den Boden berührt, und hüpft dann im gleichen monotonen Rhythmus immer wieder über das im Bogen tanzende Seil.
Die Klassenkameraden auf dem Schulhof zählen mit, feuern an.
Immer wieder klatscht das Seil auf den Boden, blopp, springt das Kind, kommt mit dem Vorderfuß auf, federt nach, strebt empor.
Mit jedem Blopp rückt die Zahl weiter.: 1,2,3,4,5… Die Zuschauer halten den Atem an. Wer schafft den Rekord? Wer verdoppelt die Geschwindigkeit? Immer schneller, immer höher, immer kühner, immer atemloser!
Und so könnte es endlos weiter gehen mit dem Hüpfen zwischen Himmel und Erde, bis die Bewegung stoppt, das Seil widerspenstig festhängt oder der Springer jäh strauchelt.
Dann ist-endlich- die Ablösung dran: Der Springer wird zum Schwenkler und zuerst der eine und dann der andere Schwenkler hebt frohgemut ab, genießt den rhythmischen Wechsel von hoch und runter, aufstreben und landen.
Das ist der normale Ablauf, die goldene Spielregel.
Aber manchmal läuft es anders.
Es gibt nämlich Dauerschwenkler, die nicht federn, hüpfen, springen, abheben, sondern erdverhaftet schwenkeln müssen, immer weiter, ohne Pause, ohne Höhepunkt, weil sie froh sind, dass sie überhaupt schwenkeln dürfen.
Ich war ein Dauerschwenkler.Wir sind von Bayern ins Rheinland umgezogen. Alles war neu. Ich war neu. Ob es daran lag, dass ich ein Dauerschwenkler war.
„Ich muss mit dir reden!“ Das hat endgültig gereicht. Vorher schon das Geplapper, wo sie doch genau weiß, dass er morgens seine Ruhe braucht…und seine Zeitung. Morgens und überhaupt.
Immer Worte, Worte, Worte, die ihn einkreisen, umstellen, in die Enge treiben. Worte als Springflut, die über ihm zusammenschlagen, ihn betäubt zurücklassen. Kommentare, Meinungen, Analysen, Urteile wie eine Schlinge, die sich unmerklich über ihm zusammenzieht…
Und diese Überempfindlichkeiten: Jeder Seufzer wird gewichtet. Jedes Zucken der Mundwinkel, jeder Tonfall enträtselt.
Da rettet er sich dann in Schweigen. Manchmal hilft es ja. Wenn er nur lange genug aussetzt und wartet, dann schneidet sie sein Schweigen irgendwann ab und setzt selbst wieder ein: die altbekannte Wortmusik, die atemlos weitgespannten Satzbögen, deren Ende er mit steigender Ungeduld voraussieht.
Wenn sie sich dann richtig warmgeredet hat, dann vergisst sie vielleicht die Aussprache und lässt sich auch abspeisen mit Nebenthemen. Fußball und wer welche Glühbirne kaufen oder eindrehen soll.
Nur heute sieht es schlecht aus: Sie setzt nach, belauert sein letztes Schlupfloch.
„Jetzt nicht“ hat sich schon so oft bewährt. Doch heute trumpft sie mit „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ auf- auch so ein Tipp von einem Psychoratgeber und lässt ihn nicht aus ihren sprachlichen Fängen. Hinterher wird sie in endlosen Telefonaten wieder alles mit ihren Freundinnen besprechen: analysieren, psychologisieren, Munition für die nächste sprachliche Belagerung.
Ja und dann, wenn Vollmond naht und sie schon morgens ihre Stimme durch das stille Haus dröhnen lässt oder mit dem Geschirr poltert, dann kann es vorkommen, dass etwas nach oben geschwemmt wird aus trüben Untiefen, Worte, die wie Beleidigungen klingen, aber nicht so gemeint sind. Dann führt er die Schwertklinge zur Verteidigung seiner Autonomie .Kein Drama eigentlich, aber diesmal hat es sie getroffen. Nun wartet sie. Worauf? Hallo ist alles, was ihm dazu einfällt. „Hallo?!“
Da sie wartet-auf dieses eine Wort-sehnsüchtig wie auf eine Liebeserklärung-ist für nichts anderes Raum-eine Anspannung auf ein Ziel hin, das doch unerreichbar scheint .Sie sitzt vor ihrem Teller, den sie selbst gedeckt hat, ebenso wie den Teller ihr gegenüber an dem runden Tisch-schweigend. Und dieses Schweigen ist doch schon längst zum Gewohnheitsschweigen geworden, wie eine leere Leinwand, die das vertraute Geplapper der Vergangenheit zurückwirft.
„Vergiss nicht, den Brief von der Konsole einzuwerfen. Heute muss der Müll herausgestellt werden.“ Oder auch: „ Neuerdings sehe ich beim Metzger Theißen nur noch sie. Er ist wie vom Erdboden verschwunden. Ist er ausgezogen oder sogar gestorben? Das kann man doch nicht fragen.“ Und die grunzende Bestätigung hinter der Zeitungswand.
Und das Lauschen zum Telefon hin, der Blick auf den Display .Das Zwiegespräch mit sich selbst: „Es ist schon richtig, dass sie nicht anruft. Sie muss ihr eigenes Leben führen.“
Vor ihr die Butterdose. Sie hat die Butter zu spät aus dem Kühlschrank genommen. Jetzt ist sie hart und lässt sich nicht streichen. Sie schneidet sich eine Scheibe Brot ab- mit dem Brotmesser.Die Brotscheibe ist etwas schief geraten .Dick am Rand und löchrig in der Mitte. Egal. Sie hat sowieso keinen Appetit. Aber der Kaffee schmeckt noch immer, ein gehäufter Teelöffel Kaffeemehl pro Tasse. Sie hat die Kaffeemaschine auf fünf Tassen eingestellt. Drei sind für sie. Besser den restlichen Kaffee in die Thermoskanne umfüllen, sonst kocht er ein zu einem schwarzen bitteren Konzentrat.
Sie stellt ihr Frühstücksgeschirr gedankenverloren in die Geschirrspülmaschine: eine Tasse, eine Untertasse nach oben, ein Teller in das untere Gestell. Messer, Gabel und Löffel senkrecht zusammengefasst in den Besteckköcher. Ob er alles umsortieren, verändern wird?
Hinter ihr klappt eine Tür. „Hallo“, sagt eine raue Stimme.
Das ist es jedenfalls nicht, denkt sie und legt sich ihren Ausgehschal um. „Hallo?!“